DRÜCKER-KOLONNE
Ich hatte eine der vielen, nicht genau definierten Anzeigen im lokalen Stellenmarkt rot angestrichen, die mit Festanstellung und 400 Euro wöchentlich, sowie der Möglichkeit, den Führerschein zu machen, meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Die Tätigkeit wurde Beifahrer/Produktionshelfer genannt, und da junge Leute zwischen 18 und 25 Jahren gesucht wurden, gern auch ungelernte Kräfte, und ich keinen Lappen besaß, hielt ich mich für genau richtig für den Job. Also rief ich an, unterhielt mich ein bisschen mit der übertrieben höflichen Dame am anderen Ende der Leitung, und bekam bezüglich der Tätigkeit schwammige Aussagen bei denen ein paar Worte fielen wie Papierkram und leichte Schreibarbeiten, was sich wirklich nicht allzu schwer anhörte. Ich müsste nur bereit sein, meine Wohnung nur alle drei Wochen mal für ein Wochenende wiederzusehen, dafür aber auch in von der Firma bezahlten Hotels übernachten, durch ganz Deutschland an der Seite irgendeines Herrn im Firmenwagen gurken, und dafür saftige 400 netto die Woche bekommen, nur sollte ich noch einmal darüber nachdenken, mit Freundin und Eltern die Sache abklären, und mich dann erneut melden. Es hörte sich für mich perfekt an; außer meinen engsten Freunden, die aufs ganze Bundesgebiet verteilt waren, hatte ich niemanden, der mich hier gebunden hätte, ich reiste gern und viel, und wenn ich dem dauerhaft nachgehen konnte, kombiniert mit überdurchschnittlicher Bezahlung, was wollte ich mehr? Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen hatte ich dann wieder die Frau und ihr Personalbüro an der Strippe, machte einen Termin aus, zu dem ich gleich meine für zwei Wochen gepackte Reisetasche, sowie Perso und Foto mitnehmen sollte. Ich wollte es nicht so recht glauben, daß es so einfach sein sollte, eine solche hochbezahlte Anstellung zu bekommen, ohne richtiges Vorstellungsgespräch, nur durch telefonische Absprache, und so versuchte ich, einen Tag vor meiner Abreise, Informationen über diese Firma herauszubekommen. Eine Recherche im Internet brachte bis auf ein Hotel im Taunus nichts weiter. Im aktuellen Telefonbuch stand die GmbH aber, auch wenn dort nur Name und Nummern standen, keine Branchenbeschreibung oder ähnliches, immerhin versteckte man sich nicht vor der Öffentlichkeit. Was mich allerdings stutzig machte war, daß in der Ausgabe des vorhergehenden Jahres man nicht verzeichnet war, und die Anzeige im Stellenmarkt nicht von der der Firma geschaltet war, bei der man beim Wählen der angegeben Nummer herauskam. Mit diesen kleinen Ungereimtheiten im Hinterkopf stellte ich mir eine kleine Liste mit Fragen zusammen, die ich bei meinem Gespräch noch stellen wollte. Zum vereinbarten Termin saß ich dann in einem fast leeren Büro, vor einem billigen Schreibtisch, der aussah, als würde er alten Stasi-Beständen entstammen, hinter dem ein gekünstelt lockerer Kettenraucher saß, der, ohne es zu merken, seine Redewendungen und Sprüche stets wiederholte, und mir dabei erklärte, bei der zu vergebenden Arbeit handele es sich um das Werben von Mitgliedern für einen relativ unbekannten Rettungsverein, die nach Leistung bezahlt werden würde. Damit war schon mal die Frage nach Festanstellung geklärt, doch auch mit Honorar-basierter Bezahlung konnte ich mich abfinden, immerhin würde ich den Leuten nicht Staubsauger oder Versicherungen aufquatschen, sondern Rettungsdienste für den Notfall, was ich zu dem Zeitpunkt moralisch nicht verwerflich fand. Ich erkundigte mich dann, wer denn nun der Fahrer sei, den ich zu unterstützen hatte, was denn seine Aufgabe war, und was genau meine Rolle dabei sein sollte. Mir wurde mitgeteilt, daß besagter Fahrer gleichzeitig auch mein Chef sei, den ich für zwei oder drei Tage begleiten würde, und dann, unabhängig von ihm, selber in ausgewählten Ortschaften, heute nicht mehr in ganz Deutschland, sondern nur noch speziell in Sachsen und Brandenburg, Mitglieder werben würde. Die erste Unterkunft würde eine Jugendherberge sein, mit extra Haushälterin, die sich um alles kümmern würde. Auch damit war ich einverstanden, zwar war aus ganz Deutschland nur noch ein Gebiet im Osten, und aus dem Hotel eine gemietete Herberge geworden, aber ich sah die Option, neue Städte zu sehen, vielleicht neue Leute zu treffen, und meinem kleinen Hobby, der Fotografie, sicherlich gut nachgehen zu können. Nach dem Lesen und Unterschreiben diverser Erklärungen und Belehrungen, in denen ich mich unter anderem auch bereit erklären mußte, mein Rückfahrticket für den Fall, daß ich vor Ablauf der zweiwöchigen Probezeit nach Hause fahren wollte, selbst zu bezahlen. Dies stellte ich mir nicht als Problem vor, selbst wenn es mir nicht gefiel, die vierzehn Tage könnte ich trotzdem dort bleiben, das Geld einstreichen und dann wieder mit gesponserter Karte nach Hause fahren. Nun sollte ich auf die Rückseite eins der Zettel eine handschriftliche Erklärung schreiben, in der ich zusammenfassen sollte, was meine Aufgabe sein würde. Doch statt selbst etwas zu dichten, wurde mir ein Satz diktiert: Ich gehe von Haus zu Haus, werbe Mitglieder für XYZ und werde nach Leistung bezahlt. Daß mir beim vorangegangen Telefongespräch nach Anfrage eifrigst erklärt wurde, ich müßte nicht "Klinken putzen" gehen, nahm ich zähneknirschend hin, ich brauchte nun einmal Geld, und dies sah so aus, als käme man mit einer fairen Sache schnell an viel davon. Als die Formalitäten geklärt waren, wurde ich ins Nebenzimmer geleitet, wo auch schon mein zukünftiger Chef zusammen mit einer anderen, soeben gemachten, weiblichen Rekrutierung auf mich wartete. Er erklärte mir nochmal dasselbe, was mir der Geschäftsführer der Firma, in deren Räumen ich mich befand, Minuten zuvor dargelegt hatte, fragte mich, ob ich wirklich dabei sein wolle, bei seinem tollen "Team", man wolle sich nämlich keine Mitarbeiter leisten, die schon nach zwei Tagen wieder nach Hause wollten, und ich sprach das Jawort. Wir nahmen unsere Taschen und stiegen zu dritt in einen Gruppenwagen, fuhren los, aus der Stadt heraus in Richtung irgendeines sächsischen Kaffs, in dem, wie sich später herausstellte, das "Team" bereits befand. Auf dem Wege befragte ich Herrn Fahrer ein wenig zu der Firma, aus der wir gerade gekommen waren, beziehungsweise ihrer Verbindung zu der Organisation, in die ich mich bald eingliedern würde. Er erklärte mir, daß es sich um eine reine Personalvermittlung handelte, die dem Chef der Agentur, unter dessen Obhut ich mich nun offenbar befand, die Arbeitskräfte zuspielte, und dafür Geld kassierte. Deshalb wollten also diese Leute nicht, daß man die Probezeit freiwillig verkürzte. Neben mir lag die Bild-Zeitung.
Einige Minuten, nachdem wir in dem brandenburgischen Städtchen angekommen waren, kamen zwei Jungs und ein Mädchen, alle nicht älter als 22, in auffälligen, roten Westen auf uns zugeschlendert. Wir stellten uns vor, und als die Sprache auf das Viertel kam, in dem ich wohnte, fragte schon der erste "Viele Ausländer, oder?", was ich nicht so ganz beantworten konnte, weil ich nie besonders darauf geachtet hatte. Mir wurde dann mitgeteilt, daß derjenige, dem ich "über die Schulter schauen" dürfe, aus eben demselben Stadtteil stamme, und er in aller Kürze eintreffen müßte. Wenig später fuhr dann auch schon der gleiche Kastenwagen vor, mit dem wir an diesen Ort kutschiert worden waren, und ein stämmiger Kerl sprang heraus, der mit markigen Sprüchen sofort geradezu um sich warf. Nach einer Runde Small Talk stieg jeder in eines der beiden Autos und fuhr in eine abgesprochene Richtung. Ich saß allein mit dem Schwätzer in einem Wagen, und während wir noch nicht einmal ausgeparkt hatten, begann er bereits, von seinen Millionen Liebschaften mit den verschiedensten Frauen zu erzählen. Unter anderem faselte er von 60-jährigen, von stundenlangen Orgien, und wie scharf er doch erst wurde, wenn sie nicht mehr wollte, usw. usf.. Nie hatte ich jemanden derart übertrieben prahlen gehört.
Wir passierten zwei Mädchen, mein Chauffeur drehte um, und scheiterte beim Versuch, ihre Nummer zu ergattern, dann rasten wir weiter durch das Dorf, hin zu einem neuen "Werber", dessen auffälige Weste schon auf einen Kilometer Entfernung zu erkennen gab, um wen es sich handelte, blieben in einer Hofeinfahrt stehen und tratschten erneut. Der Neue, recht vertölpelt aussehende Kollege hatte sich in einem Garten in der Nähe Birnen gepflückt, die wir nun zusammen verputzten, während unsere Konversation ausschließlich von Frauen, ihren Brüsten, und wieviel, wann, wo, wer handelte. Jedesmal, wenn eine Person weiblichen Geschlechts vorbeilief, wurde laut gegröhlt und grell gepfiffen, und immer, wenn es gerade kein mehr oder minder hübsches Mädchen war, daß passierte, wurde Hass versprüht und böse Worte genuschelt. Als wir beendet hatten, machte sich das Großmaul auf den Weg gen irgendwo, und ich durfte statt ihm, dem soeben kennengelernten Mitarbeiter bei der Arbeit zu sehen, bekam noch eine der lächerlichen Westen verliehen, und fand mich alsbald vor der ersten Haustür wieder. Hier wollte er mir erstmal zeigen, wie man mit alten Leuten redet, doch als dann gerade der Sohn der alten Dame im Hause war, die eine oder andere Frage stellte, fing er alsbald an zu stammeln, und als er endlich begriff, daß aus diesem Haushalt kein Schein zu holen war, ging er einfach, ohne sich zu verabschieden, und ich musste folgen. Während wir so von Tür zu Tür zogen, sah und hörte ich eine Menge Absonderliches. Der Tagesablauf dieser Lusche, mit der ich mich abgeben musste, bestand im Wesentlichen darin, auf die Straße zu spucken, Hasstiraden auf diejenigen loszulassen, die nicht auf seine dillettantischen Werbeversuche hereinfielen, und andauernd über Sex zu faseln und zu phantasieren. Der Begriff "Frau" war in seinem Wortschatz durch "Fotze" ersetzt, sein Lieblingsspruch war "Andere gehen in den Puff, wir gehen an die Tür", und in die wahre Bedeutung der drei Buchstaben auf seinem Rücken weihte er mich auch ein: "Ich ficke alle". Mir wurde immer schlechter. Und beim Gedanken an die vorhergesagte Abendunterhaltung wurde mir speiübel: Einen Splatterfilm würde man sich anschauen, mit richtig viel Blut und so.
Ich konnte mir wahrlich Besseres vorstellen, als mit einem Pack hirnverbrannter Versager in einem Zimmer zu hocken, und mir einen, dem Niveau entsprechenden Horrorstreifen anzusehen. Wo war ich hier hineingeraten? Die Abgründe menschlichen Schwachsinns zeigten sich mir in jedem Wort, daß dieser Typ von sich gab. Er prollte, prahlte, und wollte allgemein hart und stark wirken, doch wenn er einmal abweisende Einwände, oder gar geistreiche Fragen von den Anwohnern gestellt bekam, wurde er auf lümmelhafte Weise pampig und frech, quengelte vor sich hin, und wenn die Tür wieder einmal berechtigterweise vor seiner Nase zurück ins Schloß fiel, zeigte er den Mittelfinger verließ leise motzend das Haus. Es war zum Heulen. Nicht genug, daß ich mich auf eine triebgestörte Horde faschistoider Herdentiere eingelassen hatte, denen der Begriff "Humanität" in ihrem begrenzten Denken ein Fremdwort war, und damit meine romantische Vorstellung, den Leuten mit dieser Arbeit etwas "Gutes" tun zu können, ausradiert worden, sondern noch dazu wollten sie meinen gesamten Tagesablauf bestimmen, vom Frühstück bis zur Freizeitgestaltung am Abend sollte alles von anderen geregelt sein, war schon vorher festgelegt und unabdingbar. Sie nannten es WG-Leben, ich nannte es Auslöschung des Individuums. Meinen Plan, vielleicht noch ein paar Fotos zu schiessen, begrub ich schonmal.
Wenn diese Leute wenigstens umgänglicher wären, wenn sie etwas hätten, was sie auf irgendeine Weise auszeichnete, aber es gab da gar nichts, was sie vor meiner Verurteilung zu Bauerntrampeln bewahrt hätte. Die Krönung war noch gewesen, daß der Possenreisser vorhin, bevor er weggefahren war, noch eine SMS hatte tippen wollen, und mich allen Ernstes gefragt hatte, wie denn das Wort "stören" geschrieben würde: mit oder ohne "H". Ich sagte: "Ohne", woraufhin er kurz überlegte, und dann sagte: "Nein, mit", und ich schwieg.
Der andere Typ, mit dem ich nun unterwegs war, hatte es nicht genau gewusst, aber auch eher für ein "stöhren" plädiert. Kurz vor Feierabend hatte er in meinem Beisein einer jungen Frau, unter Zuhilfenahme seines ärmlichen Charmes und unter Ausnützung ihrer kleinlauten Persönlichkeit, noch einen "Schein" andrehen können. Als wir danach wieder auf der Straße standen, gab er vor mir feierlich zu, ihm würde an diesem Job vor allem seine Autorität gefallen, man war eine Respektsperson, jemand, vor dem die Leute Angst hatten. Aha. Eine Minute später standen wir vor der nächsten Haustür, in unseren billigen Westen, vor einem Herrn um die vierzig Jahre, der uns mit intelligenten Augen gutmütig musterte, und dann, als mein Kollege seinen Text herunterstotterte, denselben Witz zum Millionsten Mal sprach, sich verhaspelte, nochmal anfing, dabei unentwegt den Boden anstarrte, während seine Finger hinter seinem Rücken nervös miteinander spielten, stieg ein Schmunzeln in seine Gesichtszüge, daß er nur schwerlich zu verdecken vermochte. Es sah wirklich so aus, als würde er gleich losprusten müssen, und auch ich konnte, köstlichst amüsiert, mein Lachen nur mit äußester Anstrengung unterdrücken, musste mich gar zur Seite drehen und auf den Bürgersteig starren, um mich nicht auf dem Boden zu kugeln. Autorität? Respekt? Angst? Hier war das genaue Gegenteil. Die großen Töne, die er in meiner alleinigen Gegenwart gespuckt hatte, versackten dieser Gurke nun im Halse, und heraus kam ein unverständliches Kauderwelsch, daß immer leiser wurde, je hoffnungsloser sich das Gespräch entwickelte. Es war weder autoritär noch respekt- oder gar angsteinflößend, es war einfach nur abschäumigste Armut, die sich mein Partner hier leistete. Als der Mann sich für das Gespräch bedankte und einfach die Tür schloß, war ich ein wenig erleichtert, denn nun wußte ich wenigstens, daß es in dieser Stadt doch noch normale Menschen gab, die unser Treiben sofort durchschauen, uns leise auslachen und ohne Gezeter loswerden konnten. Als der Werbetag zu Ende ging, liefen wir zum Treffpunkt und wurden vom Prahlhannes aufgelesen. Nun gabelten wir noch insgesamt vier andere Kollegen aus der unmittelbaren Umgebung auf, hefteten uns an die Rücklichter des vorherfahrenden, ebenfalls vollen Transporters, und fuhren gen "Heimat". Während der Tour durch Brandenburg und Sachsen wurde im Wagen entweder über Sex, "Fotzen", oder geworbene und nicht geworbene Mitglieder gesprochen, während man vorbeilaufenden Frauen hinterherhupte, -brüllte und -pfiff, und alle anderen Menschen aus dem Fenster heraus wüst und dreist beschimpft wurden (unter anderem ist mir ein Satz in Erinnerung geblieben, den das Großmaul einer gebrechlichen alten Dame im Vorbeifahren zurief: "Mensch Oma, wird Zeit das du stirbst, dann gehts dir besser"). Inmitten dieses Albtraums saß ich, und machte mir bereits Gedanken, wie ich dieser Hölle am bequemsten entfliehen konnte, während ich gezwungenermaßen meinen Mund zu einem Lächeln verzog, wenn wieder mal ein platter Witz fiel. Mir fiel nichts Besseres ein, als einfach direkt nach dem Aussteigen meine Koffer zu greifen, nach dem Bahnhof zu fragen, und mich, ohne auf irgendwelches Gerede einzugehen, dorthin zu begeben. Nach anderthalb Stunden Fahrt erreichten wir ein Dorf im sächsischen Hinterland, etwa zwanzig Kilometer entfernt von Dresden, und hielten an einer Gaststätte. Niemand hatte mir gesagt, daß wir vor der Heimkehr erstmal essen wollten, und so stieg ich aus, sah kein Jugendherbergs-ähnliches Gebäude um mich herum, keiner machte Anstalten, in irgendeine Richtung zu gehen, und so wurde ich verunsichert, wollte dennoch zu meinen Taschen, die noch im Kofferaum des anderen Transporters lagen, fragte den Fahrer, ob ich denn meine Sachen nehmen könnte, doch er antwortete nur unwirsch mit einem kurzen "Nein, jetzt wird gegessen". Ich traute mich angesichts der anfeindenden Antwort nicht weiter zu fragen, und wartete stattdessen darauf, daß sich irgendetwas tat. Als die beiden Anführer/Fahrer ein paar Telefongespräche und SMS-Versände getätigt hatten, gingen allemann nacheinander in das langweilige Lokal, setzten sich an reservierte Tische, und bestellten - alle das Gleiche. Nur die Getränke waren frei zu wählen. Ich saß wieder neben dem Labermaul, und er erklärte mir, daß für die nächsten zwei Wochen, der Probezeit, die Mahlzeiten auf Kosten des Hauses gehen würden, danach aber selbst gezahlt werden müsste. Das Essen wurde serviert: Nudeln mit Gulasch. Nicht unbedingt der größte Gaumenschmaus, aber ich konnte mir Schlimmeres vorstellen. Als sich dann herausstellte, daß die Tagesmenüs dieses Restaurants aus ganzen drei verschiedenen Mahlzeiten bestanden, graute mir schon davor, alle drei Tage dasselbe essen zu müssen. Mit einem flauen Gefühl im Magen schluckte ich die Bissen, schmeckte kaum etwas, und überlegte weiter, wie ich dem Ganzen am Besten entrinnen könnte, zumal die Geschmacklosigkeit dieser Leute nicht mal vor der locker fünfzigjährigen Bedienung halt machte. Sie wurde Ziel endloser platter Witze und plumper Andeutungen, und allgemein rotierte bei Tisch das Thema nur wieder um Sex, außer das zwischendurch immer mal wieder einer der anderen Neulinge, der seit zwei Tagen zum "Team" gehörte, zum Objekt homophobischer Komik wurde. Alles lachte, und mir wurde schlechter. Ich saß da auf meinem Stühlchen und wünschte mich ganz weit weg, am besten in die normale Welt. Als das Abendessen beendet war, verliessen alle wie auf Knopfdruck die Lokalität, zwengten sich wieder in die Transporter, und wir fuhren in den letzten Sonnenstrahlen des Tages dorthin, was unsere Basis genannt wurde, von der aus, jeden Morgen aufs Neue, gestartet werden sollte. Ihr Standort hatte sich, entgegen meinen Information von immer wechselnden Übernachtungsstellen, seit zwei Jahren, also seit Existenz der Firma(?), nicht verändert. Wir hielten vor einem dreistöckigen Fachwerkhaus an, ich fasste all meinen Mut zusammen, stieg aus, wollte hinüber zu meinen Taschen gehen und abhauen, doch zu meiner Entmutigung sah ich den Fahrer des Wagens Rucksack und Reisetasche schon zur Eingangstür tragen, und meine Sicherheit schwand dahin, mein wackliger Plan zerbrach, bevor ich in ausgeführt hatte. Natürlich hätte ich ihm einfach meine Sachen entreissen können und auf die Wegbeschreibung zum Bahnhof beharren können, doch ich wollte mich dem Gerede und der Weichklopferei dieser Leute nicht aussetzen, zumal hier die ganze Mannschaft versammelt war, und ich ihnen nicht einfach sagen konnte, daß ein Umgang mit ihrer Art Mensch für mich eigentlich unerträglich war, daß ich zwar in meiner finanziellen Not sogar bereit wäre, im Namen einer fadenscheinigen Organisation die Menschen von ihrem Allgemeinwohl zu überzeugen, nicht aber dazu, meine Zeit pausenlos mit einem Haufen Schwachmaten verbringen zu müssen. So blieb ich still, prüfte, während einer der Anführer drei Schlösser der Eingangstür öffnete und wir daneben warteten, die Fenster im Erdgeschoss auf Fluchttauglichkeit, und mich schauderte. Sämtliche Klinken waren entfernt worden, keines würde zu öffnen sein. Doch selbst wenn die Fensteröffner noch vorhanden gewesen sein wären; als wir eintraten, stand ich in einem langgezogenen Gang, der in einem Treppenaufgang mündete, und die Zugänge zu den angrenzenden Räumen waren mit Holzplatten verbarrikadiert, genauso wie die Hintertür zum Hof. Hier zogen alle ihre Schuhe aus, die Haustür wurde wieder abgeschlossen, und wir gingen die einzige Richtung, die man einschlagen konnte, nämlich hin zur Treppe, hoch in den ersten Stock. Oben wälzte sich auf dem durchtretenen Teppich ein Schäferhund, der, wie mir nebenbei erzählt wurde, bis vor kurzem noch Läuse gehabt hatte. Angenehm. Napf und Decke des Köters lagen direkt vor mir. Auf diesem Stockwerk befanden sich Unterkünfte und Küche. Mein Zimmer wurde mir gezeigt; es war etwa 10qm groß, links an der Wand ein Schrank, mit dem Poster einer (wie sollte es auch anders sein) nackten Frau daran geheftet, ein Tisch davor, dahinter bis zur Zimmerwand ein Doppelbett, demgegenüber ein Einzelbett, davor ein Schrank, der zwischen Bett und Tür stand, und an den Wänden hingen Plaketten und Schilder im Stil von "Nüchtern siehst du scheisse aus". Mir wurde der untere Teil des Doppelbettes zugeteilt. Ich stellte meine Taschen vor mein Schlafgemach, und begab mich nach oben in den zweiten Stock, hier sollte "Papierkram" erledigt werden. Nach Ende der Treppe stand ich in einem Vorraum, der durch zwei Türen von angrenzendem Flur und Räumen getrennt wurde. Vor mir standen sich zwei durchgesessene Sofas schräg gegenüber, in der Mitte ein Tisch mit leeren Bierflaschen und einem überfüllten Aschenbecher darauf, hinter der linken Couch befand sich ein verriegeltes Fenster mit vertrockneten Topfpflanzen auf seinem Brett. An den Türen zu meiner Rechten hingen Zettel, auf die in billigstem Tintenstrahl das Firmenlogo gedruckt war; eine Art Doppelkreis mit einem Punkt in der Mitte, der Name des höchsten Chefs darüber, und untendrunter in der gleichen, jeglicher Ästhetik entbehrenden Schriftart das Wort "Werbeagentur". Aha. So sah also eine Agentur für Werbung im sächsischen Land aus. Eine gemietete, veraltete Jugendherberge, ein verlauster Köter, verriegelte und verschlagene Türen und Fenster, Gestank von Katzenkot, und eine Ansammlung gescheiterter Versager, die sich von zwei proletenhaften Schwätzern wie Sklaven herumkommandieren liessen. Mittendrin war ich. Ich fragte mich, warum sie überhaupt sagten, man könne jederzeit gehen. Warum war die Tür verriegelt, warum nahmen sie allen die Handys weg, wenn man ausfuhr, warum war das Erdgeschoß bis auf den Durchgang zur Treppe unbegehbar? Doch wenn ich danach fragen würde, hätten sie sicher irgendeine passende Antwort dazu parat, die vielleicht auch zutreffen könnte, doch den Nebeneffekt, wenn nicht sogar den Hauptzweck, den würden sie verschweigen. Jedenfalls ließen wir uns nun nieder, der Prahlhannes, das Mädchen, daß mit mir zusammen hier rein gerutscht war, und ich, wir saßen nun im Treppenhaus auf den gammeligen Sperrmüll-Sofas, und fingen an, uns ein wenig zu unterhalten. Gewohnt niveaulos driftete das Gespräch von flachen Scherzen, über schmarotzende Asylbewerber, über kranke Homosexualität, bis hin zu Schlägereien und weiblichen Formen, bis mir mitgeteilt wurde, daß gleich jemand mit den vielen Zetteln erscheinen würde, die auszufüllen waren. Mir war ganz und gar nicht wohl dabei. Bisher hatten sie nur meinen Namen, nichts anderes, und ich hatte nicht vor, diesen Primaten auch nur eine Zahl meiner Telefonnummer oder auch nur einen Buchstaben meiner Adresse zu verraten, also merkte ich beiläufig an, daß ich mir gar noch nicht so sicher sei, ob ich diese Arbeit überhaupt noch machen wolle. Sofort verfinsterte sich die Miene des Proleten. Mit kalter Stimme und versteinertem Gesicht fragte er mich langsam, wie er daß denn verstehen solle, ich hätte doch genau gewusst, was mich erwarten würde, als ich losgefahren war, hätte doch zugesagt, zumindest zwei Wochen zu bleiben, und warum zu Teufel wollte ich jetzt schon den Schwanz einziehen? Ich nuschelte ein wenig herum, und er rief seinen Partner dazu. Mit ebenso feindlicher Stimmlage forderte er mich auf, den Satz zu wiederholen, den ich auf die Rückseite des Bogens bei der Personalvermittlung geschrieben hatte. Ich betete ihn herunter, revidierte dann meine vorher getane Andeutung, ja, ja, die zwei Wochen würde ich machen, klar, und entschied mich, nicht noch einmal meinen Unwillen gegenüber dieser Situation, dieser dreckigen Unterkunft, und vor allem gegenüber diesen Menschen anzudeuten. Ich konnte diesen Leuten nunmal nicht einfach ins Gesicht sagen, daß ich sie grenzenlos verbohrt und kurzsichtig fand, und mich jedes einzelne ihrer Worte bis zum Letzten aneekelte. Nein, es musste einen anderen Weg geben, irgendwie musste ich eine geeignete Lösung finden. Aber aus diesem Haus gab es kein Entrinnen. Wenn ich hinaus gehen wollte, hatte ich die Chefs um Erlaubnis zu fragen, und wenn sie dann meine Taschen sehen würden... nein, diesen quälenden Wortgefechten wollte ich mich nicht aussetzen, zumal ich sehr wahrscheinlich sowieso weichgeklopft werden würde, und dann doch wieder in diesem Loch versacken würde. So schossen meine Gedanken hektisch umher, auf der Suche nach einem gesunden Aus- und Abgang, während der Proll neben mir schon wieder angefangen hatte, seine Sprüche zu machen, und ein Mädchen, daß sich mittlerweile neben mich gesetzt hatte, mit falschem Charme ergebnislos versuchte zu betören. Als irgendwann alle auszufüllenden Papiere herangebracht worden waren, begaben wir uns ins Wohnzimmer des "Geschäftsführers" dieser "Werbeagentur". Hier lief ein Fernseher, der ungefähr meiner Körpergröße entsprach, daneben standen zwei Decoder, eine riesige Anlage die mit Surround-Boxen schallte, und aus dem Nebenzimmer ertönte das Rauschen einer Amateurfunkeranlage. Zwei Kätzchen strichen zwischen dem massiven Wohnzimmertisch und dem Ledersofa umher. Wir setzten uns auf das dicke Ecksofa, und zuerst wurde mir eine Seite Text diktiert, die der sogenannte "Grundspruch" sein sollte. Es handelte sich dabei um den vorgefertigten Text, den man bei jeder Haustüre aufsagen sollte, und der das inhaltlich wichtigste kompakt aussagte, um den Gegenüber so schnell wie möglich zur Unterschrift zu bringen. Diesen Spruch sollte ich am Abend auswendig lernen, damit ich ihn am nächsten Tag schon einmal selbst anwenden könne. Als ich den Zettel beschrieben und eingesteckt hatte, mußte ich den Personalausweis rausrücken, und zum zweiten Mal an diesem Tag wurde meine Adresse, Telefonnummer, Geburtsdatum, Ausweisnummer usw. penibel genau abgeschrieben. Dazu wurde ich noch nach Namen, Nummer und Anschrift meiner Eltern gefragt, zwecks Benachrichtigung, falls mir etwas zustieße. Ich gab falsche Daten an. Dann musste ich noch einige Zettel unterschreiben, unter anderem auch eine Bestätigung, daß ich für die nächsten zwei Wochen schon einen Vorschuß im Werte von 216 Euros in bar erhalten hatte, und daß ich ab sofort freier Handelsvertreter im Auftrage der Rettungsfirma sein würde. Es war der reinste Hohn: Ich war das Gegenteil von frei, und für die Unterkunft in diesem dreckigen Loch musste man sogar noch 20 Steine pro Tag an den Oberboss entrichten.
Als die Schreibarbeiten erledigt waren, begaben wir uns in den Aufenthaltsraum, wo sich drei der Mitartbeiter aufhielten, die dann rüde dazu aufgefordert wurden, den Raum zu verlassen, und von denen einer zur Strafe, weil er zu lange fürs Verlassen brauchte, die nächste Woche zum Kloputzen eingeteilt wurde. Dann wurde uns ein zehnminütiger Werbefilm der Rettungsfirma gezeigt, in dem noch einmal eingehend alle Argumente, mit denen man auf die Menschen zugehen sollte, auf billigste Art und Weise breit getreten wurde. Als der Streifen zuende war, fragte ich aus einer instinktiven Ahnung heraus nach der Toilette. Soe würde mir in Bälde gezeigt werden, jetzt wäre sowieso schon bald Schlafenszeit, und wir könnten uns ab sofort beschäftigen, mit was wir wollten.
Wir gingen wieder hinunter in den ersten Stock, wo zwei kleine, mit PVC verkleidete Räume waren, die jeweils eine Kloschüssel, ein Waschbecken und einen Lichtschalter hatten. In einem der beiden verschwand ich, um zu pissen. Hier kam mir dann die Idee, mal auf den Klodeckel zu steigen, und aus dem Fenster zu schauen, ob sich hier nicht eventuell eine Fluchtmöglichkeit bot. Ich steckte meinen Kopf durch das winzige Loch in der Wand, und entdeckte zu meiner Erleichterung links unter mir eine Art Schuppen, der ein Flachdach hatte, von dem aus man im Notfall recht einfach die Straße erreichen müßte. Dies behielt ich als letzten Ausweg im Hinterkopf, dann suchte ich das Zimmer auf, in dem ich schlafen sollte. Als ich in das Kämmerchen trat, befanden sich schon fünf andere darin. Ich setzte mich hin, blickte um mich, sah ein paar Bierdosen, und begriff, was sie hier taten. Sie führten doch tatsächlich gerade eine Art Rollenspiel durch. Einer war der Vertreter, der andere potentielles Mitglied, und Ersterer mußte den anderen mit schlagkräftigen Argumenten zur Einwilligung und Unterschrift bewegen, welcher aber mit allen möglichen Zweifeln und Einwänden konterte. Sie trainierten hier tatsächlich ihr Verkaufsgespräch, und hatten nichts besseres zu tun, als nebenher noch Bier zu trinken. Den ganzen Abend klopfte jemand an die Türe, bat den Vertreter hereinzukommen, und löcherte ihn mit Fragen, die der tolle Rettungsmann nach bestem Können beantwortete, während alle anderen drumherum standen, und sich das Ganze anhörten, immer mal wieder über diesen und jenen Versprecher, oder diese und jene Dummheit lachend.
Ich sah dem Schauspiel eine Weile zu, und auf einmal bemerkte ich mit Entsetzen, daß ich langsam die Distanz zu ihnen verlor, daß ich anfing, mitzulachen, daß ich begann, auf ihr Niveau abzusinken. Was mir am Nachmittag und nach der Ankunft noch wie von einem anderen Stern vorgekommen war, wurde mittlerweile zur Normalität, zum Alltag. Zu meinem Alltag. Als ich das begriff, als ich sah, daß meine Distanz zu diesen engstirnigen, verbohrten Affen langsam schwand, da schrillten in meinem Hirn sämtliche Alarmglocken.
Nicht eine Sekunde länger durfte ich mit diesen Leuten zusammen sein, schon gar nicht ganze zwei Wochen, ich müsste noch in der selben Nacht flüchten, und wenn mir nichts anderes blieb, auch gern durchs Klofenster. Das Flachdach links darunter wurde Gegenstand meiner Überlegung. Noch war ich mir nicht sicher, ob ich es wirklich machen sollte, doch als ich alle Möglichkeiten, die sich mir boten, eingehend prüfte, erschien mir die stille Flucht durch die Toilette noch am Gesündesten, vor allem für mich. Ich hätte auch bis zum nächsten Morgen schlafen können, dann den beiden Bossen Bescheid geben können, ich wolle aufhören und das Haus sofort verlassen, doch ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, wie schwierig sich das gestalten würde. Zuersteinmal hätte ich einen geeigneten Zeitpunkt dafür finden müssen. Allenmann wurden morgens um halb sechs geweckt, mussten sich bis halb sieben fertig gemacht und geduscht haben, dann würde es Frühstück geben, und dann würden allemann schon wieder in den beiden Transportern sitzen, und wieder in irgendein brandenburgisches Kaff fahren. In diesem straff organisierten Zeitplan erschien kein Moment dazu günstig, mein Anliegen zu unterbreiten. Und selbst wenn ich einen solchen fand, ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, wie er in kurzen Zwischengesprächen und lauter anderen Kleinigkeiten soweit in die Länge gezogen und zerschmolzen werden würde, bis er nicht mehr so geeignet war, und ich sah mich schon dort stehen, schwitzend, während meinem Wunsch keine Aufmerksamkeit geschenkt werden würde, bis er schließlich weichgekocht sein würde, und dann die beiden Chefs in der gleichen, autoritär-drohenden Manier mich bearbeiten würden, bis mein Wille entgültig zersetzt wäre. Ihre psychische Folter bis zum Ende durchzustehen würde enorme Willensstärke erforden, und ich hatte keine Lust, mich all dem auszusetzen. Und wer weiß, vielleicht würden sie es wirklich schaffen, mich dazubehalten, keine Ahnung, was sie noch für Geschütze auffahren würden und was ihre weiteren Methoden waren, ich jedenfalls wollte es nicht herausfinden. Stattdessen wollte ich lieber still und heimlich abhauen, und entschied mich so auch endgültig dafür. ich dachte noch ein wenig darüber nach, während im Zimmer das dämliche Rollenspiel die ganze Zeit weitergeführt wurde, und allmählich kam meine Flucht in meinem Geiste zur Form. Ich müßte mich in Kleidern schlafen legen, wachbleiben, bis allemann schliefen, dann einfach meine Taschen greifen und durchs Klofenster in die Freiheit entschlüpfen. Dabei fiel mir ein, daß meine Schuhe ja noch unten am Eingang standen, und ich konnte mich nicht mehr genau daran erinnern, ob nicht zwischen Treppenhaus und Durchgang noch eine Trennwand war, die meine Latschen von mir trennen könnte. Wenn das der Fall wäre, könnte ich meine Pläne direkt begraben, und wenn nicht, der Umstand, daß sie dort unten standen, und nicht direkt bei mir, machte die Sache schwieriger, als ich es zuerst gedacht hatte. Zuerst müsste ich mich davon vergewissern, daß der Zugang zu den Schuhen nicht versperrt war. Zu diesem Zwecke öffnete ich meine Reisetasche, entnahm ein Handtuch, schlenderte hinaus auf den Gang, ins Treppenhaus, und als sich keiner in der Nähe befand, schlich ich die Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Zu meinem Glück war nichts zwischen mir und den Schuhen, ich könnte sie also später holen.
Ich lief die Treppe zurück hinauf, weiter in den zweiten Stock, erkundigte mich bei einem der Luschen die dort saßen nach der Dusche, musste davor noch 15 Minuten warten, und trat dann hinein. Ich befand mich in einem langen, schmalen Räumchen, dessen Wände gekachelt waren, und aus nichts weiter bestand als einer alten Badewann in der linken Mitte, an deren Rand ein paar Handtücher trockneten, aber erblickte keinen Duschraum, oder wenigstens einen Duschkopf. Ich verschloß erstmal die Tür, schritt dann auf dem nassen Boden weiter in den Raum, zog dann die Strümpfe aus, und schaute mich um. Am hinteren Ende dieses schmalen Etwas, daß diese Leute Bad nannten, befand sich ein Loch, daß sich bei näherer Betrachtung als Abflusswanne aus Beton herausstellte, und etwa zwei Meter darüber schaute ein kleines metallenes Ding aus der Wand. Dies war also Dusche und Duschkopf. Dann erkannte ich auch den Hahn, der zu meiner Erleichterung sogar die Möglichkeit bot, die Wassertemperatur zu regulieren. Schnell zog ich mich aus, stand für ein paar Minuten regungslos unter dem wärmenden Strahl, drehte dann das Wasser ab, zog mich wieder an, und ging nach unten. Hier hatte sich nichts geändert. Nach wie vor saß man, mit Bierdosen in den Händen herum, und sah zu, wie einer, der wohl erst seit zwei Tagen dabei war, seinem Gegenüber unverständliches Zeug entgegennuschelte. Das nasse Handtuch hängte ich über die Bettkante, dann aber, als ich mal wieder für ein paar Minuten Zigarettenpause allein gelassen wurde, stopfte ich es eiligst wieder in die Tasche, verschloß sie gründlich und abfahrbereit, und stellte sie hinter den rechten Schrank, damit sie von dem Einzelbett aus nicht gesehen werden konnte. Nun prüfte ich, wie laut das Bett war, wenn ich mich bewegte; wand ich mich zur Seite, blieb es halbwegs ruhig, doch wenn ich aufstand, egal wie ich es auch anstellte, knarzte und knackte meine Stätte schlimmer als jeder Wecker. Das war natürlich nicht so gut, doch es musste auch so gehen, mir würde nichts anderes übrig bleiben. Ich legte mich zurück auf die Matratze, zog die Decke über meine Hosenbeine und spielte den Ermüdeten. Bald kamen meine Zimmergenossen zurück, und nach ein bisschen Konversation über Sinn und Unsinn der Polizei, die doch sowieso immer zu kommen würde, nur weil sie immer erstmal ihren Kaffee austrinken würden bevor sie ausrückten, wurde das Licht ausgeknipst, und man sagte sich gute Nacht. Nun war Ruhe, und ich fing an, mir meinen Plan soweit zusammenschmieden, daß ich kaum Gefahr lief, bei meinem Ausbruch aus diesem Knast aufzufallen. Er sah folgendes vor: Zuerst würde ich, wenn beide meiner Zimmerkollegen eingeschlafen waren, aufstehen, meinen Rucksack von seiner Stellung hinter meinem Bett greifen, dann den Raum zu verlassen, ein Stockwerk tiefer meine Schuhe zu holen, zurück ins Zimmer zu gehen, und wieder auf schlafend zu machen, damit, falls mich jemand bei meinem Treiben bemerkt hatte, dieser keinen Verdacht schöpfte. Eine Weile würde ich so warten, dann wieder aufstehen, die dicke Tasche zu schnappen, und nur noch durchs Fenster zu entkommen. Auch eventuelle Überraschungen kalkulierte ich mit ein; wenn einer der beiden Schlafenden aufwachen und mich fragen würde, wohin ich denn mit dem Rucksack wolle, würde ich sagen, ich wolle ins Bad, könne nicht schlafen und würde mich waschen wollen, und in dem Rucksack wäre die benötigte Seife, und so weiter. Wenn mich jemand dabei überraschen würde, wie ich die Treppe hinab zum Ausgang ging, könnte ich sagen, ich wolle nur mal raus an die frische Luft, Zigaretten zu holen, und in dem Fall könnte ich dann sogar enttäuscht/erbost darüber zurückkehren, daß ich die Tür verschlossen vorgefunden hatte. In dem Falle hätte ich auch ein weiteres Argument für den Fall, daß irgendwas schiefginge, und ich mich am nächsten Morgen doch irgendwie rausboxen müßte. Andere Situationen erschienen mir dagegen sehr heikel, und ich konnte noch nicht einschätzen, wie ich reagieren müßte. Wenn mich jemand im Flur mit den Schuhen antreffen würde, oder schlimmer noch, wenn ich dabei überrascht werden würde, wie ich mit beiden Taschen und angezogenen Schuhen schon im Flur stand. Bei den Schuhen könnte ich immer noch sagen, daß ich nur mal eben raus wollte, aber in zweitem Falle würde mir wahrscheinlich nichts anderes übrig bleiben, als an der Person vorbei auf die Toilette zu rennen, sie abzuschließen, und so schnell wie möglich erst durchs Fenster das Haus zu verlassen, und dann über Schleichwege auch das Dorf hinter mir zu lassen. Aber dies waren alles Momente, in denen ich mich erst bei ihrem Eintreten für die geeignetste Reaktion entscheiden müßte, wobei ich aber sehnlichst hoffte, mich nicht mit derartigem auseinandersetzen zu müssen. So lag ich wach, und das Läuten der Kirchturmglocken direkt gegenüber teilte mir jede Viertelstunde die aktuelle Uhrzeit mit. Ich brannte darauf, die Minuten vorüberziehen zu hören, damit ich endlich starten konnte, und jede Sekunde Wartezeit machte die Spannung unerträglicher. Dieser Plan könnte klappen, soviel wußte ich, und ich wollte ihn durchsetzen, solange ich noch den Mut und die Kraft dazu spürte. Während ich so dalag, schaute ich beunruhigt auf die nervösen Bewegungen meines Gegenübers. Irgendetwas schien ihm vom Schlafe abzuhalten, jedenfalls drehte und wendete er sich immer wieder ungeduldig in seiner Decke, und immer wenn ich vermutete, nun sei er eingeschlafen, fing er doch wieder an, sich mit den Fingern im Gesicht rumzufummeln und sich unruhig hin- und her zu wälzen. Aus dem Dunkel heraus sah ich ihm unentwegt dabei zu, und versuchte dabei, meine eigene Atmung lang und gleichmäßig zu halten, auf daß er annehmen müßte, ich würde längst schlafen. Und dann schlug die Uhr die zweite Stunde. Nun mußte es geschehen, auch wenn der Kerl gegenüber immer noch keine richtige Ruhe gab. Kurz wartete ich noch ab, zog dann die Decke zur Seite, und streckte mein Bein aus. Das Bett knackte und knirschte, und bevor ich überhaupt auf dem Boden stand, fuhr mein Gegenüber herum, und starrte mich im Dunkeln an. Ich ignorierte ihn, machte auf schlaftrunken, taumelte in Richtung Tür, drehte mich zur Seite, nahm den Rucksack in die Hand, und trat hinaus auf den Flur. Ich hatte Glück; diese Leute hatten ihre dreckige Kleidung zum Waschen vor die Türen gelegt, und so konnte ich meinen Rucksack unter ein paar miefenden Wäschestücken. Nun ging ich den Gang entlang zum Treppenhaus. Ein Licht sprang an, doch keine Hand, sondern nur ein Bewegungsmelder hatte es angeschaltet. Das passte zu allem anderen in diesem Gefängnis; man konnte nicht mal entscheiden, ob man im Dunkeln oder im Hellen latschen wollte.
Ich schritt die Treppen hinab, und noch bevor ich ihren Absatz erreicht hatte, vernahm ich ein bedrohliches Knurren. Dann stand ich ihm Gang und blickte zur Türe. Der verlauste Schäferhund starrte mich wachsam und mit aufgesperrten Ohren an, und er knurrte umso lauter, je näher ich ihm kam. Glücklicherweise standen meine Schuhe einige Meter von dem Köter entfernt, so daß ich sie, nachdem ich mich unter leisem, beruhigendem Flüstern an sie herangeschlichen hatte, aufnehmen konnte, und langsam wieder zur Treppe schritt. Zu meiner Erleichterung bellte er nicht, oder schlug sonstwie Alarm, doch selbst wenn, meine Ausrede, Zigaretten holen zu wollen, hätte immer noch gepasst. So ging ich unbeschadet und unentdeckt wieder nach oben, stopfte die Schuhe zum dem Rucksack unter dem Wäscheberg, trat wieder ins Zimmer, wo der nervöse Typ im Einzelbett mich sofort wieder anglotzte, legte mich auf meine Stätte, drehte mich um, und er tat dasselbe. Nun lag ich wieder hier, Teil eins meiner Mission war erfüllt, Teil zwei würde bald starten. Teil drei, der vorsehen sollte, wie ich vorgehen würde, wenn ich erstmal draussen war, hatte ich noch nicht bedacht. Die Uhr schlug halb drei, und ich hielt den Zeitpunkt für gekommen, den endgültigen Ausbruch nun zu wagen. Erneut stand ich auf, wieder begleitet vom unvermeidbaren Kreischen des verdammten Bettes, und sofort blickte mich Herr Hyperaktiv wieder an, und noch dazu gähnte jetzt der Junge über mir, der sich die ganze Zeit über kaum geregt hatte, vor sich hin. Mir blieb trotz allem nichts anderes über, als zur Türe zu gehen, sie leise zu öffnen, und mich in den Flur zu stellen. Ich drehte mich um, beobachtete den, der über mir geschlafen hatte, bei seinen Streckübungen, wußte, daß er mich, so auf dem Rücken liegend, nicht sehen konnte, daß auch der andere dazu nicht in der Lage war, denn es stand ein leer Schrank zwischen ihm und mir, und direkt vor mir war meine Reisetasche, die ich nun sanft und geräuschlos aufhob und in den Flur stellen konnte. Leise schloß ich die Tür, kramte die Schuhe hervor, zog sie an, schnappte Rucksack und Tasche, ging schnellen Schrittes in Richtung Klos, sah die unvermeidbare Lampe mir entgegenstrahlen, verschwand im linken Raum, zog die Tür zu doch schloß sie nicht ab, denn niemand hatte mich gesehen, und auch wenn die beiden Gurken irgendwann bemerken würden, daß ich nicht mehr zurückkehrte, - ich wäre längst über alle Berge.
Und so warf ich die Taschen, auf der Kloschüssel stehend, aus dem engen Fensterchen hinüber auf das Schuppendach, zwängte mich selbst hinterher, verlor fast das Gleichgewicht und sah mich schon auf den Boden zurasen, sprang dann aber im letzten Moment nach links zu meinen Taschen, und landete unversehrt auf der Dachpappe. Sofort legte ich den Rucksack an, schwang den Riemen der Reisetasche quer über meine Brust, lief zur Kante dieses Daches, und wollte nicht fassen, was ich sah. Hier war kein Ausweg, hier war keine Straße, hier war nichts, auf daß ich mal eben hätte springen können; vor mir floß ein Bach, der gerade Hochwasser führte, und deshalb eher ein reißender Strom war, und der übergangslos mit Haus- und Schuppenwand abschloß. Ich blickte mich um, doch gegenüber war ein weiteres Gebäuse, neben mir der Knast, und schräg hinter floß das Wasser, unter mir ein Innenhof, der weder Tür noch Tor besaß. Entlang des Wasserlaufs verlief eine hohe Mauer, die das Bachbett vom Innenhof trennte, und deren Höhe ich auf etwa drei Meter schätzte. Sie fing direkt am Ende des Schuppens an, und war maximal 40 Zentimeter breit. Ich sah zu ihrem Ende, doch konnte in dem dortigen Dunkel nicht erkennen, ob ich wenigstens dort irgendwie abhauen konnte. Ich fing schon an zu verzweifeln. Nicht genug, daß man unter Einsatz seiner Gesundheit überhaupt erst nach draussen kam, nein, selbst wenn man es geschafft hatte, schaute man meterweit in die Tiefe, und war wiederum nur gefangen. Sollte ich umkehren? Lieber noch wollte ich es riskieren. Trotz der glitschigen Mauer und trotz der Tiefe, in die ich hinabstürzen konnte, musste ich doch einen Blick ans andere Seite dieses Innenhofes werfen, damit ich immerhin nicht sagen konnte, ich hätte nicht alles versucht. Also balancierte ich zitternd auf der brüchigen Mauerkante entlang, und legte so Meter um Meter zurück. Ich konnte mich nicht entscheiden, in welche Richtung ich lieber fallen würde, wenn ich tatsächlich das Gleichgewicht verlieren sollte. Zu meiner Linken ging es hinab in Sturzfluten, in denen ich entweder erfroren oder ersoffen wäre, zu meiner Rechten ging es hinunter auf gepflasterten Steinboden, wo ich mir wahrscheinlich alle Knochen gebrochen hätte. Aber mir passierte nichts, die 30 oder 40 Meter legte ich unbeschadet zurück, und mit Freude sah ich am Ende der Mauer eine kleine Gasse, die ich leicht hinabspringen konnte, und die mich auf die nächste Straße führen würde, von wo aus ich wenigstens irgendwo hin, Hauptsache weg von hier, rennen könnte. Ein letztes Mal blickte ich zurück, schaute auf das friedliche, dunkle Haus, daß mir in diesem Moment eher wie ein schwarzer Moloch vorkam, und sprang dann beherzt hinunter in das Gässchen, rannte auf die anliegende Straße, weiter geradeaus auf eine Anhöhe hinauf, vorbei an gelbglühenden Lampen, immer weiter, wollte weg vom Licht, in Angst, daß mir doch jemand folgen würde, und erreichte bald, erschöpft, aber glücklich, einen Feldweg, dessen Lauf ich ersteinmal folgte.
Mich fröstelte ein wenig, also zog ich meine Jacke aus der dicken Tasche, und streifte sie über. Wie sollte ich weitermachen? An der Himmelsrichtung brauchte ich mich nicht zu orientieren, wenn ich es auf die Weise probieren würde, wäre ich in einer Woche eine verhungerte Leiche in irgendeinem vergessenen Stück Mischwald. Der Bahnhof erschien mir da ein besseres Ziel. Am Nachmittag hatte ich mich bereits erkundigt, ob in diesem Dort irgendwo eine Station existierte, damit ich auch all die Bekanntschaften, die ich an den Haustüren kennenlernen würde, auch mal besuchen könne. Es war bejaht worden, und jetzt wollte ich dorthin. Der Feldweg verlief parallel zu einer langen Häuserreihe, und als die Häuser endeten, sah ich eine Fabrik, eine Produktionshalle, in der noch Licht brannte. Dorthin ging ich, rief durch ein offenes Tür einen Arbeiter zu mir, und fragte nach dem Weg zum Bahnhof. Natürlich war er in entgegengesetzter Richtung, circa einen Kilometer entfernt. Ich bedankte mich höflichst, und ging die breite Straße durch das winzige Industriegebiet zurück zu den Wohnhäusern, wo ich in die erste Seitenstraße einbog, so daß ich, für den Fall, daß man mich doch noch suchte, noch schnell in einen Vorgarten hechten konnte, falls ein Auto vorbeifahren würde. Ein paar Minuten lief ich so, sah dann zwei Rücklichter in einer Hauseinfahrt abgeschaltet werden, blieb stehen, wartete auf den, der ausstieg, und fragte ihn ebenfalls nach dem Bahnhof. Nach Auskunft bedankte ich mich wieder artig, lief weiter, und nach einigen Metern fuhr der junge Mann hinter mir her, blieb neben mir stehen, und schon fand ich mich im Auto zur Bahnstation wieder. Ich erzählte ihm von meinem Erlebnis, brauchte dafür die ganze Fahrt, gab ihm noch den Hinweis mit, nie in seinem ganzen Leben mit irgendwelchen fremden Leuten, die um irgendwelches Geld für irgendetwas betteln, Geschäfte zu machen.
So stand ich dann, um Punkt drei Uhr, am Bahnsteig dieses Kaffs und ging zum Abfahrtsplan. Der erste Zug würde erst in anderthalb Stunden fahren. Da ich auf keinen Fall an dieser Station bleiben und auf ihn warten wollte, fing ich an, die Bahnlinie entlang zu laufen um zum nächsten Bahnhof zu gelangen. Auf dem Weg ereilte mich zweimal, inmitten des tiefsten, dunkelsten Waldes die Wahnvorstellung, von wilden Tieren umringt zu werden, und in meiner Angst schrie ich dann wie am Spieß, nur um dann zu bemerken, daß ich doch wieder nur gegen einen schwarzen Busch angebrüllt hatte. Hier schoß ich auch die ersten Fotos meiner mißratenen Reise. Als ich das nächste Dorf erreicht hatte, wanderte ich wieder auf festen Straßen, streckte den paar vorbeifahrenden Autos den Daumen entgegen, keines nahm mich mit, und so fragte ich eine Zeitungszustellerin nach dem Weg zum Bahnhof.
Ich folgte der Beschreibung, versuchte auf dem Weg dorthin, einem Bäcker frische Backware zu stibitzen, was leider mißlang, und stand dann, nach knapp anderthalb Stunden Fußmarsch, am Bahnsteig. Nun hatte ich ein kleines Problem: Fünf Minuten später würde der Zug kommen, und ich besaß kein Geld, und bis ich mal eine Bank finden würde, wäre der Zug schon längst abgefahren, und ich müsste eine weitere Stunde in dieser Kälte verbringen. Ich blieb also wo ich war, und stieg einfach ein. Eigentlich hatte ich beim Einsteigen den Schaffner fragen wollen, ob er mich nicht bis Dresden (der nächsten, größeren Stadt) würde mitfahren lassen, da ich mir ab dort sowieso ein Ticket lösen würde, doch als der Zug angehalten hatte, war niemand ausgestiegen und hatte mit seinem Pfeifchen geträllert, und so saß ich nun im Wagon, ohne Karte, dafür aber mit Heizung um die Füße. Nach einer Viertelstunde kam dann die Schaffnerin, die ich nur fragte, ob sie nicht ein Auge zudrücken könnte, da ich nicht mehr die Zeit gehabt hatte, zur Bank zu laufen usw., doch sie wurde nur schnippisch, schüttelte den Kopf, und keifte mir so unfreundlich wie nur möglich ins Gesicht, ich möge doch bitte sofort nachlösen oder die nächste Station aussteigen. Also stieg ich aus. Mit den 50 Cent, die ich noch besaß, war eine Fahrkarte nicht bezahlt, und so stand ich nun, mittlerweile schon halb sechs Uhr morgens irgendwo kurz vor Dresden, und entschied mich, eine Bank zu suchen. Ich fragte mich durch, hob Geld ab, kaufte mir noch drei trockene Brötchen, schoß ein paar Fotos von der aufgehenden Morgensonne, und latschte zurück zum Bahnhof. Wieder holte ich mir keine Fahrkarte, und fuhr so unbehelligt bis in die Dresdner Innenstadt, wo ich noch einen kurzen Aufenthalt hatte, dann mein Zug einfuhr, ich einstieg, und beseelt frohlockte, als ich merkte, wie er sich in Bewegung setzte. Es war mittlerweile kurz vor sieben, die Sonne blinzelte mir hinter den Wolken zu, und ich empfand so, als ob ich jahrelang kein Licht gesehen hätte, und jetzt erst wieder, staunend wie ein Kind, zum ersten Mal wieder Zeuge der Welt sein durfte. Ich saß allein im Abteil, unendlich müde zwar, aber an Schlaf war nicht zu denken. Lieber holte ich die Kamera hervor, und hielt diesen wunderbaren Morgen aus dem Zugfenster heraus fest. Ich sah schöne Altbauten an mir vorbeiziehen, überflutete Felder, lange Baumreihen, und gönnte mir noch einen Becher Kaffee, der mir von einer Dame gereicht wurde, die ich innerlich für ihren festen, geregelten Job, mit festem Gehalt am Ende des Monats auf ihrem Konto beglückwünschte, und sie für ihre trainierte Gutmütigkeit, für ihren gemäßigten Alltag, für all ihre Normalität fast schon liebte, jetzt, da ich der Hölle, die ich durchlebt hatte, entkommen war. Den Rest der Fahrt schrieb ich in das Büchlein, daß ich mir eigentlich zur Niederschrift meiner Reiseberichte aus deutschen Städten zugelegt hatte, diese Geschichte, und als ich kurz vor zehn in meine Wohnung trat, ließ ich mich noch kurz von meiner schönsten Musik umspülen, legte mich dann glücklich auf meine wohlige Matratze, zog die wärmende Decke über mich, und schlief ein.
Wenn ich es heute betrachte, war dies etwas, daß man Grenzerfahrung nennt. Es hat mich geformt, meinen Willen gestärkt, und schlußendlich meine Persönlichkeit zu ihrer vollen Entfaltung gebracht. Ich musste mich erst in den Flammen des Hasses winden, um den wahren Wert der Liebe in Vollem zu erkennen. Wenn heute in der Zeitung irgendwelche Anzeigen stehen, in denen mit wenig Arbeit für viel Geld geworben wird, weiß ich, was dahinter steckt, und blättere weiter. Wenn heute jemand an meiner Tür klopft, der auf irgendeine Weise mein Geld haben will, ich schicke ihn zum Teufel; mag sein Anliegen noch so moralisch klingen, und mag sein Geschwätz noch so tugendhaft erscheinen - es geht ihm doch nur ums Geld, um nichts anderes als daß, und solchen Leuten schenke ich heute nur noch meine Verachtung.
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